Was ist Adaktylie?
Adaktylie bezeichnet das vollständige Fehlen eines oder mehrerer Finger oder Zehen von Geburt an. Die Fehlbildung zählt zu den angeborenen Extremitätenanomalien und tritt isoliert oder im Rahmen eines Syndroms auf. Dabei kann ein einzelner Finger oder Zeh fehlen, aber auch die vollständige Abwesenheit aller Digiti ist möglich. Der Begriff leitet sich vom Griechischen „a-“ (ohne) und „dactylos“ (Finger) ab.
Diese seltene Fehlbildung ist nicht nur eine anatomische Besonderheit, sondern kann erhebliche funktionelle und psychologische Auswirkungen auf die Betroffenen haben. Adaktylie ist nicht zu verwechseln mit Amputationen oder traumatisch bedingtem Verlust von Fingern oder Zehen – sie besteht von Geburt an und entwickelt sich bereits in der Embryonalphase.
Ursachen der Adaktylie
Die Ursachen der Adaktylie sind vielfältig. Meist liegt eine Störung der embryonalen Entwicklung zwischen der vierten und achten Schwangerschaftswoche vor. In dieser sensiblen Phase entstehen die Gliedmaßen, und jede Unterbrechung oder genetische Veränderung kann die Entwicklung der Finger oder Zehen beeinflussen.
Zu den häufigsten Ursachen gehören:
- Genetische Mutationen: Veränderungen einzelner Gene, z. B. im Bereich der HOX-Gene, können zu Fehlbildungen der Extremitäten führen.
- Syndromale Zusammenhänge: Adaktylie tritt häufig im Rahmen genetischer Syndrome auf, z. B. beim Poland-Syndrom oder Adams-Oliver-Syndrom.
- Externe Einflussfaktoren: Umweltgifte, Medikamente (z. B. Thalidomid), Infektionen oder ein Sauerstoffmangel im Mutterleib können die Ausbildung der Gliedmaßen stören.
- Amniotische Strangbildung: Wenn faserige Bänder der Fruchtblase die Entwicklung der Gliedmaßen einschränken, kann dies zu Adaktylie führen.
Klassifikation und Formen der Adaktylie
Adaktylie kann unterschiedlich ausgeprägt sein. Die Klassifikation erfolgt meist anhand der Lokalisation und des Ausmaßes:
- Partielle Adaktylie: Einzelne Finger oder Zehen fehlen.
- Komplette Adaktylie: Alle Finger oder Zehen einer Hand oder eines Fußes sind nicht vorhanden.
- Unilaterale oder bilaterale Adaktylie: Die Fehlbildung kann nur eine Seite oder beide Seiten betreffen.
Diese Differenzierung ist entscheidend für die therapeutische Planung und die funktionelle Prognose.
Symptome und Diagnose der Adaktylie
Das Leitsymptom ist das sichtbare Fehlen von Fingern oder Zehen. Die Diagnose erfolgt in der Regel unmittelbar nach der Geburt oder bereits pränatal mithilfe von bildgebenden Verfahren wie dem Ultraschall.
Neben der rein anatomischen Abweichung können folgende Begleitsymptome auftreten:
- Bewegungseinschränkungen der Hand oder des Fußes
- Fehlstellungen benachbarter Strukturen
- Einschränkung der Greiffunktion oder des Gleichgewichts
Zur weiteren Abklärung kommen moderne Bildgebungsverfahren wie MRT oder CT sowie genetische Analysen zum Einsatz. In Fällen syndromaler Adaktylie ist eine interdisziplinäre Diagnostik erforderlich.
Behandlungsmöglichkeiten bei Adaktylie
Die Behandlung der Adaktylie richtet sich nach dem Ausmaß der Fehlbildung und den funktionellen Einschränkungen. Ein individueller Therapieplan wird in der Regel in einem spezialisierten Zentrum für Fehlbildungen erstellt.
Konservative Maßnahmen
- Ergotherapie zur Verbesserung der Beweglichkeit
- Physiotherapie zur Förderung der Muskelkoordination
- Psychologische Begleitung bei ausgeprägter Adaktylie
Operative Verfahren
- Rekonstruktive Chirurgie, z. B. Zehen-zu-Hand-Transplantationen
- Einsatz von Prothesen
- Korrekturoperationen zur Verbesserung der Greiffunktion
Ziel der Therapie ist es, die Lebensqualität zu verbessern, die Selbstständigkeit zu fördern und gegebenenfalls ästhetische Korrekturen vorzunehmen. Besonders bei Kindern ist eine frühzeitige Intervention entscheidend, da sich das Gehirn noch an veränderte Bewegungsmuster anpassen kann.
Leben mit Adaktylie
Menschen mit Adaktylie können ein weitgehend normales Leben führen, insbesondere wenn frühzeitig therapeutische Maßnahmen eingeleitet werden. Die soziale Integration, schulische Entwicklung und berufliche Perspektive hängen stark vom Ausmaß der Fehlbildung und der psychosozialen Betreuung ab. Zahlreiche Betroffene berichten trotz der Einschränkungen von hoher Lebenszufriedenheit – vorausgesetzt, es bestehen ausreichende Unterstützungsangebote.
Ein offener Umgang mit der Fehlbildung und frühzeitige Aufklärung im sozialen Umfeld können zur Akzeptanz beitragen. In vielen Fällen kompensieren Betroffene motorische Defizite durch alternative Bewegungsmuster oder Hilfsmittel.
Fazit
Adaktylie ist eine seltene, angeborene Fehlbildung, die individuell sehr unterschiedlich ausgeprägt sein kann. Die Ursachen sind vielfältig, die Symptome reichen von rein kosmetischen Auffälligkeiten bis hin zu gravierenden funktionellen Beeinträchtigungen. Eine gezielte Diagnostik und interdisziplinäre Therapie ermöglichen es jedoch, die Lebensqualität erheblich zu verbessern. Frühzeitige Maßnahmen, psychologische Unterstützung und gegebenenfalls operative Eingriffe sind entscheidend für eine erfolgreiche Langzeitprognose.
Quellen
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- Sadler TW. Langman’s Medical Embryology. 14th ed. Philadelphia: Wolters Kluwer; 2019.
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